Kurze Vorgeschichte
Wir hatten uns letztes Jahr als Initiative ME/CFS Freiburg gerade gegründet und unsere Homepage eingestellt, als wir zwei Wochen vor Weihnachten über eine Pressemitteilung erfuhren, dass am 27. Januar 2022 ein virtueller Fachtag des Sozialministeriums und der Landesärztekammer Baden-Württemberg zu Long-COVID/Post-COVID stattfinden sollte. Im Programm des Fachtags wurde ME/CFS mit keinem Wort erwähnt und keiner der Referenten galt als Kenner der Erkrankung, viele waren uns eher als Leugner bekannt. Das verhieß die ungebremste Fortsetzung des Negierens, Verleugnens und Psychologisierens der Erkrankung durch das festgefügte „politisch-medizinische Schweigekartell“ in Baden-Württemberg. Trotz vieler Mails und eines Rundschreibens noch am 23. Dezember an alle Vorsitzenden und gesundheitspolitischen Sprecher*innen der Fraktionen, an die Landesärztekammer, Dr. A. Welker (Ref. 51) und direkt an Herrn Sozialminister M. Lucha wurde unsere dringende Bitte um Einladung von Expert*innen für ME/CFS abgelehnt mit der Begründung eines „bereits finalisierten Programms“ und „dem Schwerpunkt des Programms auf baden-württembergische Strukturen“ . Dies richtete sich insbesondere gegen „eine Referentin aus Berlin“, deren Namen (Prof. Scheibenbogen) den zuständigen Fachleuten im Ministerium offenbar völlig unbekannt war.
Anhörung
Doch aus zwei Fraktionen kam eine positive Resonanz und im Februar 2022 erhielten wir dann die Information, dass der Vorschlag für eine Anhörung zu ME/CFS im Sozial- und Gesundheitsausschuss des Landtags interfraktionell auf Interesse gestoßen sei und stattfinden würde. Beim Empfang der Einladungen für den 20. Juni konnten wir dann zufrieden feststellen, dass all unsere Vorschläge, die wir gegenüber den verschiedenen Fraktionen immer wieder gemacht hatten, doch berücksichtigt waren, sowohl bei der Auswahl der Expert*innen als auch bei der Beteiligung von Betroffenen und Patientenorganisationen.
Durch eine gute Abstimmung und Vorbereitung unter den vier Vertreter*innen der Betroffenen und der Verbände ist es gelungen, die Abgeordneten aller Parteien davon zu überzeugen, dass dringend Maßnahmen ergriffen werden müssen.
Gerade die Kombination aus Wissenschaft (Frau Prof. Scheibenbogen, Frau Prof. Behrends) und
- den eindrucksvollen Berichten betroffener Eltern,
- der plastischen Darstellung der fehlenden medizinischen und sozialen Versorgung
- und dem Ansprechen des fehlenden Wissens im Gesundheitssystem und deshalb fehlender und falscher Diagnosen trotz bestehender ICD-Schlüsselnummer (G 93.3)
hatte eine deutliche Wirkung und berührte die Abgeordneten. Dies schilderten sie auch nachdrücklich in ihren abschließenden Statements.
Einen zusammenfassenden Bericht zur Anhörung finden Sie in der gemeinsamen Pressemitteilung der ME/CFS Selbsthilfe BW, der Initiative ME/CFS Freiburg, des Fatigatio e.V. und der Deutschen Gesellschaft für ME/CFS e.V.:
Das ganze Video der Anhörung können Sie sich hier ansehen. Der Ablaufplan der Anhörung hilft dabei, sich einen Überblick zu verschaffen.
Die Badische Zeitung hat auf der Titelseite des Lokalteils für den Kreis Emmendingen einen sehr guten und ausführlichen Artikel veröffentlicht: Chronisches Erschöpfungssyndrom: Freiburger Initiative stellt Forderungen an Politik
Zusätzlich zum Artikel gab es noch einen Kommentar von Marius Alexander:
ME/CFS - Politik muss rasch handeln
Wie schwerfällig das System Medizin auf eine neue Art von Krankheit reagiert, ist einigermaßen verwunderlich. Immerhin gehen Schätzungen davon aus, dass bundesweit mindestens 300 000 Menschen an ME/CFS leiden — zumal Zusammenhänge mit an Covid-19 erkrankten Menschen gesichert scheinen und mit einem laut Freiburger Initiative „drastischen Anstieg der ME/CFS-Fallzahlen bei Erwachsenen sowie bei Kindern und Jugendlichen zu rechnen“ sei. Da Universitätskliniken wie die in Freiburg sich offensichtlich außerstande sehen, eine Behandlung anzubieten, obwohl die Weltgesundheitsorganisation (WHO) ME/CFS bereits 1969 als neurologische Erkrankung bezeichnet hat, kann das Bohren dicker Bretter nur über die Politik erfolgversprechender sein. Die Signale, die von dort ausgesendet werden, lassen hoffen. Doch Beschleunigung ist notwendig. Dabei muss die Erkenntnis wachsen, dass eine Erkrankung, deren Ursachen im Dunkeln zu liegen scheinen, von gestandenen Medizinern nicht in der Vorurteilsschublade „Psychosomatik“ abgelegt werden darf. Viel zu oft wurden damit in der Vergangenheit ernsthafte Anliegen von Patientinnen und Patienten abgebügelt.
Die schriftlichen Stellungnahmen der Betroffenen und der Betroffenen-Organisationen zur Anhörung mit umfassenden Darstellungen der Missstände und Forderungen zur Verbesserung der Lage können hier heruntergeladen werden:
- Gerhard Heiner (Initiative ME/CFS Freiburg)
- Susanne Ritter (ME/CFS-Selbsthilfegruppe Alb-Donau-Kreis/Schwäbische Alb)
- Deutsche Gesellschaft für ME/CFS (vertreten durch Torben Elbers)
- Fatigatio e.V. (vertreten durch Birgit Gustke)
- Bettina Grande (Bundesverband der Vertragspsychotherapeut*innen e.V.)
Die Pressemitteilung des Landtages zur Anhörung erkennt den „dringende[n] politische[n] Handlungsbedarf beim Krankheitsbild ME/CFS“ aufgrund der „völlig unzureichend[en]“ Versorgungslage an.
In der ursprünglichen Fassung der Pressemitteilung fehlte das Leitsymptom, also die Belastungsintoleranz (PEM), welches zentraler Bestandteil der Anhörung war und dessen Verständnis essentiell ist, um weitere Fehlbehandlungen zu vermeiden. Nach einem Hinweis an die Pressestelle des Landtags am 22. Juni durch eines unserer Mitglieder wurde das Wort "Belastungsintoleranz" zeitnah ergänzt.